Inwiefern kann deine Gesundheit von unbewältigten Traumata abhängen? Welche basale Rolle spielt ein reguliertes Nervensystem für eine ganzheitliche Heilung?
Was ist Trauma? Wie wirkt sich ein Trauma auf das Nervensystem, auf den gesamten Körper aus, und wie beeinflusst es somit auch den Darm und den Schlaf? Worin liegt der Irrtum der gängigen Art von Psychotherapie? Warum hilft Reden oft nicht weiter?
Inhaltsverzeichnis
- 1 Psyche - der große Irrtum
Psyche - der große Irrtum
Dass die Psyche eine erhebliche Rolle bei der Manifestation von Krankheiten spielt, ist mittlerweile allgemeines Wissensgut. Deshalb möchte ich die psychische Komponente in meine Betrachtungen mit einbeziehen, jedoch gleich einen gezielten Bogen zum speziellen Thema Trauma schlagen.
Denn anhand der Traumatheorie wird deutlich, welch enormen Einfluss die Psyche auf unsere Körperfunktionen haben kann, und wie massiv sich emotionale und körperliche Verletzungen auf unser System auswirken können.
Der Begriff Trauma wird vielfältig verwendet, beschreibt jedoch immer eine Verletzung, sowohl emotional als auch körperlich. Ab wann man von Trauma sprechen kann, hängt davon ab, wie das jeweilige Nervensystem auf die potentiell traumatisierende Situation reagiert. Dabei spielen individuelle Faktoren, wie Resilienz, eine Rolle.
Dieses Kapitel bezieht sich auf Schock- und Entwicklungstrauma. Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann als Folge unbewältigter Traumata diverse Symptome verursachen.
Trauma wird im Gedächtnis und im Körper anders verarbeitet als zum Beispiel Ärger im Büro. Es beinhaltet immer eine Überwältigung des Nervensystems. Die Verletzung wird vom Betroffenen so stark empfunden, dass es seine Fähigkeiten zu deren Integration übersteigt, und folglich in Zusammenbruch oder Abspaltung münden muss.
Da ein Trauma sich immer auf den Körper auswirkt, kann beispielsweise auch eine Operation trotz Narkose traumatisierend wirken, denn der Körper nimmt alles wahr, selbst wenn sich das kognitive Gedächtnis nicht erinnern kann. Das Trauma bleibt im Körpergedächtnis gespeichert und ist nur durch bestimmte, meist unbekannte Trigger abrufbar, die eng mit dem unbewussten Geschehen verknüpft sind, und das Trauma leider völlig unberechenbar reaktivieren können.
Unser dreieiniges Gehirn teilt sich in das Stammhirn als ältestes System unseres Gehirns, in das phylogenetisch jüngere limbische System, das für Emotionen und Bindung zuständig ist, und den jüngsten Neocortex, die Großhirnrinde.
Ein Trauma wird im Stammhirn, auch Reptiliengehirn genannt, gespeichert. Das Stammhirn ist für Reflexe, Instinkte und basale Emotionen zuständig. Hier geht es um das reine Überleben. Es reagiert nicht auf Sprache, sondern auf Bilder, Gerüche, Geräusche, bestimmte Berührungen. Da es für den Bereich der Sprache nicht zugänglich ist, kann eine Gesprächstherapie keine Hilfe bringen.
Das erklärt, warum viele Patienten trotz jahrelanger Behandlung auf diese Weise keine Heilung finden. Denn insbesondere im Falle eines Entwicklungstraumas gab es zur Zeit der Traumatisierung noch keine Sprache. Da andererseits jedoch die Bilder, die mit Sprache erzeugt werden, alte Gefühle reaktivieren können, besteht hier immer die Gefahr einer Retraumatisierung.
Reden ist eine begrenzte Art der Kommunikation. Sie ist von der Ratio gesteuert und linkshemisphärisch verortet. Sie kann frühkindliche Verletzungen nicht heilen, weil wir in diesem frühen Entwicklungsstadium nur rechtshemisphärisch kommunizierten, d.h., wir reagierten nur auf Tonfall, Stimmlage und Gesichtsausdrücke.
Mit einer körperorientierten Psychotherapie, die weniger auf Sprache setzt, als vielmehr Körperwahrnehmungen mit einbezieht, kann es viel eher gelingen, Traumata und damit einhergehende Symptome aufzulösen, als mit einer rein kognitiv ansetzenden Vorgehensweise.
Trauma als Körperzustand
Hier laufen alle Fäden zusammen. Das Trauma scheint über alle anderen Faktoren die größte Macht zu besitzen. Du kannst (darm-) gesunde Ernährung, Entspannungstraining, Meditation oder Sport als hilfreiche Hebel in Bewegung setzen, doch deren positive Wirkung hängt stark davon ab, ob und in welchem Maße ein Trauma besteht. Denn dieses kann deinen Körper in einer chronischen Anspannung halten, die auf sämtliche Körperfunktionen hemmend oder beschleunigend einwirkt.
In beiden Fällen sind es die für unser Nervensystem zwar jeweils richtigen, für uns gefühlt aber falschen, jedenfalls unerwünschten Effekte. Denn wer braucht Herzrasen und maximale Muskelanspannung, wenn er eigentlich schlafen will?
Wer sitzt gerne lange auf dem Klo, weil er nicht kann, aber doch muss? Wohl niemand. Ein hoch erregtes Nervensystem schon. Es hat triftige Gründe. Es will dich schließlich beschützen. Vor dem Säbelzahntiger. Oder vor dem, das es dafür hält.
Der Schrecken, der seit dem Trauma dein Nervensystem in diesem Zustand hält, ist in deinen Körperzellen gespeichert, und dauert so lange an, bis das Trauma gelöst ist. Vorher ist keine Entspannung möglich. Kein erholsamer Schlaf. Keine Entgiftung. Keine Verbindung. Kein richtiges Leben.
Natürlich gibt es temporäre Linderung auf der Symptomebene. Diverse Pillen, Drogen, Ablenkung, eine Umarmung, ein warmes Bad, Sex oder Essen. Jeder findet mit etwas Glück seine eigenen hilfreichen Methoden.
Bei Weitem nicht alles wirkt bei jedem. Während der eine beim Hören von schlaffördernden, binauralen Beats ins Koma fällt, liegt der andere zwar erwartungsvoll, weil totmüde, aber dennoch vergeblich, weil trotzdem schlaflos im Bett.
Bauch über Kopf
Das enterische Nervensystem, unser vermutlich ältetestes Nervensystem, ist ein peripheres, vom zentralen Nervensystem getrenntes System, das völlig unabhängig von Gehirn und Rückenmark funktioniert.
Dieses sogenannte „Bauchhirn“ verfügt über einen eigenen neuronalen Schaltkreis. Es steht über den Nervus Vagus direkt mit dem limbischen System im Hirn in Verbindung, an das seine „intuitiven Bauchentscheidungen“ übermittelt werden.
Bei Insekten, Schnecken und Meerespolypen funktioniert das Bauchgehirn sogar ohne Kopfhirn und vegetatives Nervensystem völlig autonom.
Ist Trauma normal?
Je nachdem, in welcher Phase deines Lebens dich ein Trauma traf, kannst du dich eventuell gar nicht erinnern oder dir nicht vorstellen, dass das Leben leichter sein kann. Vor einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) kann ein Leben durchaus schön gewesen sein. Möglicherweise wird sie deshalb von Betroffenen als so desaströser Einschnitt im Leben empfunden. Weil es einen Vergleich gibt zwischen vorher und nachher.
Beim Entwicklungstrauma war von Anbeginn immer alles so, wie es jetzt scheint. Angespannt, traurig, grau und facettenarm. Es gibt natürlich, wie überall, verschiedene Schweregrade. Wir werden alle mehr oder weniger oft in verschiedenen Ausmaßen traumatisiert. Schon subtile Ereignisse, wie ein Unfall oder auch Mobbing, können traumatisierend wirken.
Gemein ist allen Traumatisierungen, dass sie nicht nur auf emotionaler Ebene eine Reaktion hervorrufen, sondern, und vor allem, auch auf körperlicher, insbesondere in den Muskeln und Faszien. Bleibt diese Reaktion unvollendet, weil sie, aus welchen Gründen auch immer, unterdrückt wird, wird sie im Körper eingefroren, und kann dort jederzeit durch äußere Trigger reaktiviert werden.
Wenn dies dann gerade zu einem gefühlt ungünstiger Zeitpunkt geschieht, und schon gar kein Traumatherapeut zur Stelle ist, wird sie erneut unterdrückt.
Dieser Kreislauf kann sich solange fortsetzen, wie der Körper seine daraus resultierenden und stetig zunehmenden Symptome zu kompensieren vermag. Oft bis ans Lebensende. Manchmal, in von außen als Unglück betrachteten, im übergeordneten Ganzen jedoch als Segen anzusehenden Fällen, bricht das System in Gestalt eines sogenannten Burnout zusammen.
Wer war zuerst da? Das Ei oder die Henne?
Ist das Mikrobiom ursächlich für mein Befinden oder spielt das Hirn eine übergeordnete Rolle für den Darm?
Ich kann auf eine beachtliche Karriere diverser psychotherapeutischer Behandlungen zurückblicken. Auf zwanzig Jahre habe ich es gebracht, und doch hat mich nichts von meiner Symptomatik befreien können. Abgesehen von in dieser Zeit angehäuftem Wissen und einem reichhaltigen Erfahrungsschatz, der mindestens ein dickes Buch füllen könnte, haben sich insbesondere meine Schlafstörungen eher kontinuierlich verschlimmert.
Einzel- und Gruppensettings, Psychoanalyse und Schlafklinik ließen mich zwar Leidensgefährten finden, aber keine langfristige Hilfe. Zudem fühlte ich mich zusehends dünnhäutiger, und musste mich fragen, ob die immer deutlicher spürbar werdende Hochsensibilität ein weiteres Symptom, oder ein schon immer dagewesener, jedoch inzwischen leider nicht mehr ignorierbarer Teil von mir ist.
Mein letzter Therapeut entließ mich mit den Worten: Sie wissen jetzt alles, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen und empfehle eine Körpertherapie. So irrte ich durch unzählige Angebote, die sämtlich Privatleistungen waren, von Tanzen bis Wutseminar, bis ich auf die Traumatheorie stieß. Endlich fühlte ich mich verstanden.
Ich konnte nicht schlafen, weil sich mein Nervensystem permanent im Fluchtmodus befand. Bis mein Trauma gelöst war.
Unser Nervensystem - autonom und zuverlässig
Sympaticus - Kampf oder Flucht?
In der Traumaheilung wird zwischen drei Zuständen des autonomem Nervensystems unterschieden. Damit wurde das bis dato gültige, auf lediglich zwei Säulen fußende Modell um einen dritten Zustand ergänzt.
Der Sympatikus hält uns aktiv. Er beschützt uns vor Gefahren im Außen. Jedenfalls war es ursprünglich so gedacht. Denn obwohl wir in unserer zivilisierten Welt keinem Säbelzahntiger-Angriff mehr ausgesetzt sind, wurde der Fight-or-flight-Mechanismus unseres Nervensystems von der Evolution bis heute beibehalten.
Lebensgefährliche Attacken sind den als Stress zusammengefassten äußeren und inneren Reizen gewichen. Dieser Tausch würde für unser System kein Problem darstellen, wenn wir den daraus resultierenden Angriffs- oder Fluchtimpulsen nachgeben würden. Aber wenn der Chef uns wegen eines vermeintlichen Fehlers anbrüllt, steht oft zuviel auf dem Spiel. Also wird gehorsam stillgehalten.
Doch das Angebrülltwerden erfordert naturgemäß eine Reaktion unter Einsatz aller durch unsere Stresshormone (Adrenalin und Noradrenalin) mobilisierten Kräfte. Bei Ausbleiben einer adäquaten physiologischen Reaktion verbleiben die Stresshormone viel länger im Blut, als würden sie zeitnah durch die freigesetzte Muskelkraft abgebaut.
Bei regelmäßig wiederkehrender Unterdrückung dieses biologischen Reflexes kommt es zum Dauerstress, was sich in einer chronischen Erhöhung des Cortisolspiegels bis hin zur Nebennierenschwäche/-insuffizienz auswirken kann.
Die Aktivierung des sympathischen Nervensystems bewirkt die maximale Anspannung und eine gesteigerten Durchblutung der quergestreiften Muskulatur und ein Herunterfahren aller für Kampf und Flucht nicht dienlichen Körperfunktionen, wie Verdauung und analytisches Denken.
Einige weitere Faktoren sind in der rechten Spalte aufgeführt. Im Vergleich dazu, links ein Auszug aus dem Wirkspektrum des parasympathischen, die Entspannung fördernden Vagusnerven.
Allein anhand dieser Tabelle lassen sich Rückschlüsse auf mögliche Ursachen diverser Symptome ziehen.
Shut down - rien ne va plus
Kampf und Flucht sind zwei Varianten der Stressbewältigung. Eine dritte, lange, sowohl theoretisch als auch praktisch übersehene, und damit leider immer noch wenig beachtete, ist der Totstellreflex, die Erstarrung. Dabei ist dies der evolutionär älteste Überlebensmechanismus. Die oben stehende Tabelle müsste also um eine dritte Spalte vervollständigt werden.
Im reinen Zustand des Shut-down sind alle Vitalfunktionen auf das Nötigste heruntergefahren.
Leider wirkt sich das bei länger andauerndem Verweilen innerhalb dieser Verfassung, wie es insbesondere für unsere menschliche Spezies zutreffen kann, sehr ungünstig auf unser Gesamtbefinden aus.
Im Grunde lässt sich das Bild einer manifesten Depression zur Verdeutlichung heranziehen. Die Reaktionen sind auf ein Minimum reduziert, sämtliche Körperfunktionen stagnieren, der Betroffene wirkt kaum ansprechbar, die Schmerzgrenze ist erhöht.
Ein Beispiel aus der Tierwelt
Wird eine Gazelle von einem Löwen verfolgt, ergreift sie akut die Flucht, weil sie instinktiv weiß, dass ein Kampf für sie nachteilig ausgehen würde. Sollte sie feststellen, dass ihr Tempo oder ihre Kondition nicht ausreichen, um dem Verfolger zu entkommen, fällt sie durch den physiologischen Tonusverlust ihres Muskelsystems in die Todesstarre.
Dies ist kein Resultat einer kognitiven Überlegung, sondern ein biologischer Mechanismus des autonomen Nervensystems. Man könnte es auch als Ohnmacht bezeichnen. Dieser Reflex sichert der Gazelle in diesem Moment ihr Überleben. Denn ein Löwe ist nicht an einem toten Objekt interessiert, und stellt, so er nicht gar zu ausgehungert ist, die Verfolgung ein.
Wenn die Gazelle die Besinnung wiedererlangt und sich einer Abkehr des Löwen versichert hat, setzt ihre Schockreaktion ein, die sich in heftigem Zittern äußert. Nach vollständigem Abklingen dieses physiologischen Ausgleichmechanismus´ geht sie zur Tagesordnung über.
Leider wird von uns Menschen oft auch dieser kompensierende Prozess unterdrückt, den vielleicht keine vergebliche Flucht, aber durchaus beispielsweise die Folgen eines Autounfalls erfordern würden.
Statt Betroffene zittern zu lassen, werden sie (medikamentös) beruhigt, falls sie nicht ohnehin schon so konditioniert und kontrolliert sind, dass ein Abreagieren bereits von ihnen selbst im Keim erstickt wird. Das Ergebnis ist in beiden Fällen eine festgehaltene Spannung im Körper, die sich chronisch in diversen Symptomen manifestieren kann. Und zwar so lange, bis sie sich final entladen darf.
Der Totstellreflex oder Shut-down tritt ein, wenn in einer lebensbedrohlichen Situation weder Kampf noch Flucht möglich sind. Dabei spielt es keine Rolle, wie die Lage von außen betrachtet wirkt. Entscheidend ist, wie sie vom Betroffenen eingeschätzt wird. Wird jener beispielsweise während einer Gewalttat festgehalten, oder befindet er sich gefangen in einem abstürzenden Flugzeug, kann dieses Ereignis so überwältigend sein, dass eine Erstarrung eintritt. In der Psychologie wird dieses Phänomen auch Dissoziation genannt.
Erziehung oder Traumatisierung?
Lässt eine Mutter ihr Baby solange schreien, bis es irgendwann von selbst aufgibt, hat sie den gleichen Effekt. Was früher Erziehung genannt wurde, war eigentlich der Startschuss in eine kollektiv traumatisierte Gesellschaft.
Denn ein Baby schreit nicht, weil es die Eltern tyrannisieren will, sondern weil es Hunger hat oder Zuwendung braucht. Beides ist essentiell für sein Überleben. Wenn es also trotz der Hilferufe nicht gehört wird, muss es zwangsläufig angesichts dieser von ihm so empfundenen Lebensgefahr erstarren.
Ein Baby kann sein Nervensystem nicht selbst regulieren. Diese Aufgabe muss von der Bezugsperson übernommen werden.
Da es sich hierbei um ein Entwicklungstrauma handelt, welches das Schicksal des Betroffenen insofern besiegelt, da dieser sein Leben von Beginn an nur aus diesem Zustand heraus wahrnehmen kann, sind sowohl seine emotionalen als auch seine körperlichen Wahrnehmungen auf wenige Schattierungen reduziert.
Das Symptombild der latenten Depression ist geboren.
Die Polyvagaltheorie
Der ventro-vagale Zweig des Nervensystems, jener, der für das social engagement und die Fähigkeit zur Selbstregulation zuständig ist, entwickelt sich erst postnatal, und dies auch nur dann, wenn die hierfür erforderlichen Bedingungen erfüllt werden.
Es bedarf eines Minimums an inniger Zugewandtheit von 18 Monaten, um dieses System im Körper zu etablieren. Und selbst dann ist die erlernte Fähigkeit zur Selbstregulation noch sehr fragil. Bei Erfüllung aller im Folgenden aufgeführten acht essentiellen Punkte bis zum Alter von fünf bis sieben Jahren kann von einer stabilen Ausprägung des ventralen Vagus ausgegangen werden.
– Sicherheit durch Gehaltenwerden
– weicher Blickkontakt, der Akzeptanz und Geborgenheit ausdrückt
– Geteilte Aufmerksamkeit auf etwas, wohlwollenden Focus auf die andere Person
– Haut-an-Haut-Kontakt, nährende Berührung
– beruhigende Klänge, rhythmische Bewegung (z.B. Wiegen)
– synchronisierte Bewegungen, Mimik und Gestik
– Vergnügen: Lächeln, Spielen. Lachen
– Wechsel zwischen Phasen der Ruhe und der Lebendigkeit
Wird die Erfüllung dieser grundlegenden Bedürfnisse versäumt, kann sich der für das menschliche Miteinander so wichtige ventrale Zweig des Vagusnerven nur unzureichend bis gar nicht ausbilden, was massive Folgen für den Betroffenen im Besonderen, und unsere Gesellschaft im Allgemeinen nach sich zieht.
Denn das Bewusstsein für die Folgen dieser Vernachlässigungen, seien sie Zeitgründen oder der aus eigenen unbewältigten Traumatisierungen resultierenden Unfähigkeit der Bezugsperson geschuldet, hat sich leider noch immer nicht flächendeckend in unserer Gesellschaft etabliert.
Gesprächstherapien, die das Miteinbeziehen des Körpers und dessen fokussierte Wahrnehmung vernachlässigen, haben sich langfristig als nicht hilfreich bei der Bewältigung von Traumata erwiesen.
Auch die vorschnelle Diagnosestellung, die als Ergebnis einer Kategorisierungstendenz den Therapeuten dazu verleitet anzunehmen, er habe bereits ein umfassendes Bild vom Patienten, noch bevor er ihn überhaupt gehört hat, können das Leid des Betroffenen ins Unsägliche steigern Denn letzterer fühlt sich (wiederholt) weder gesehen noch verstanden.
Darüber hinaus kann eine Fehldiagnose auch dessen soziales Leben gefährden, wenn ihm beispielsweise statt einer unerkannten komplexen Traumatisierung ein Borderlinesyndrom bescheinigt wird.
Des Weiteren entwickeln sich multiple Persönlichkeiten nachweislich durch kognitive Retraumatisierungen, welche in reinen Gesprächstherapien (zu denen auch und besonders die Psychoanalyse zählt) durch das wiederholt praktizierte Erzählen des primär traumatisierenden Ereignisses ausgelöst werden können.
Wie befreiend sich die Auflösung von Trauma auswirken kann, zeigte Peter Levine am Fall eines Mannes, der Zeit seines Lebens im erstarrten Zustand “dahin vegetierte”. Bis dato war er jahrzehntelang als Gefängniswärter tätig gewesen. Heute ist er Künstler.
Drei Schaltkreise
Unser autonomes Nervensystem funktioniert also, wie jenes aller Säugetiere, in drei voneinander getrennten Schaltkreisen. Das sympathische Nervensystem, das für Aktivierung zuständig ist, verläuft als sogenannter Grenzstrang parallel zum Rückenmark.
Das parasympatische Nervensystem, welches durch den Nervus Vagus, den zehnten Hirnnerven, verkörpert wird, verzweigt sich in einen ventralen (bauchseitigen) Ast, der den Zustand von sozialer Zugewandtheit fördert, und den lange Zeit unbeachteten, dorsalen (rückwärtigen) Ast, der uns erstarren lässt. Dieser Ast ist im Gegensatz zum ventralen nicht myeliniesiert, womit seine Reizleitungsgeschwindigkeit viel langsamer ist als jene seines vorderen Verwandten.
Der hintere Ast ist der phylogenetisch ältere von beiden, und findet sich bei allen Wirbeltieren, wohingegen der ventrale Vagus nur bei Säugetieren anzutreffen ist. Auch entspringt der dorsale einem anderen Kerngebiet im Hirn als der ventrale Vagus. Beide Äste haben als Innervationsgebiete nur Herz und Lunge gemeinsam.
Während der dorsale Vagus mit nahezu allen Eingeweiden verschaltet ist, endet das Revier des ventralen Vagus oberhalb des Zwerchfells. Jedoch zählen darüber hinaus die mimischen Muskeln des Gesichts zu seinem Einzugsbereich. Dabei kooperiert er mit vier anderen Hirnnerven (V, VII, IX, XI)
Diese drei beschriebenen Zustände des autonomen Nervensystems können sowohl in reiner Form auftreten, als auch, insbesondere in gut ausbalancierten Nervensystemen, in Kombination aktiv sein. Der Wettkampfsport zum Beispiel erfordert einerseits einen aktiven Sympaticus zur Mobilisierung von Kraft-und Ausdauerreserven, andererseits zugleich einen aktiven ventralen Vagus für die
soziale Komponente des Spiels (Mobilisierung ohne Angst).
Die gleichzeitige Aktivierung vom dorsalen und ventralen Vagus ist hingegen nötig, um ein Kuscheln genießen zu können (Immobilisierung ohne Angst).
Detailliertere, augenöffnende Ausführungen findest du in diesen Büchern:
Die folgende Tabelle ist ein grobes Gerüst zur Veranschaulichung der neurophysiologischen Grundlagen sowohl unseres Beziehungs- und Kontakterlebens, als auch unserer Körperfunktionen.
Reizdarm als Traumasymptom?
Aus voran gestellter Tabelle ließe sich ein denkbarer Zusammenhang zwischen Trauma und Reizdarm ableiten.
Das Nervensystem eines Menschen mit ungelöster Traumathematik pendelt, je nach Schwere, meist zwischen sympathischer (Über-) Aktivierung (2) und dorso-vagaler Immobilität (3) hin und her.
Da eine optimale Darmfunktion nur im homöostatischen Zustand (1) möglich ist, wechselt sie beim Reizdarm zwischen Verstopfung und Durchfall.
Vielleicht hast du bei Mitmenschen, oder bei dir selbst beobachtet, dass es für einen erfolgreichen Stuhlgang einer gewissen inneren Ruhe und eines Gefühls von Sicherheit bedarf.
So manchem ist es schier unmöglich, auf einer anderen als seiner eigenen Toilette sein Geschäft zu verrichten. Wenn dies doch einmal unvermeidbar werden sollte, erzeugt das Stress im Sitzenden.
Wenn dann vor der Tür weitere, womöglich am Drücker rüttelnde Bedürftige warten, kann das dazu führen, dass der Darm nebst Inhalt trotz ursprünglicher Not quasi erstarrt und die Kloschüssel leer bleibt.
Weder ein permanent aufgewühlter Darm noch sein extrem träges Pendant bieten ideale Lebensbedingungen für erwünschte Bakterien.
Wer wohnt gern freiwillig in einem zugigen, hoch frequentierten Durchgangszimmer, oder andererseits in einer stagnierten Kloake?
Meist nur die, die selbst gern Rabatz machen, nämlich all die unerwünschten Plagegeister, die in unserer Stuhlanalyse rot markiert sind.
Die Regeneration unseres Körpers ist generell nur bei Dominanz des Parasympaticus möglich. In ständig überreiztem Zustand kann sich der Körper nicht mehr erholen.
Wenn die Kompensationsmechanismen der jungen Jahre irgendwann nicht mehr greifen, entstehen als Folge dieser Dysregulation Symptome, die sich bei Fortbestand der Ursachen in Krankheiten manifestieren können.
Der dänische Körpertherapeut Stanley Rosenberg hat in seiner 30-jährigen Praxiserfahrung einfach umzusetzende Übungen entwickelt, die den ventralen Ast des Vagusnerven aktivieren.
So konnte er seine Klienten von diversen körperlichen Leiden befreien.
In seinem Buch „Der Selbstheilungsnerv“* beschreibt er diese Übungen detailliert, bebildert und für jeden leicht nachvollziehbar.
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