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Artgerechtes Leben

Fasten oder Hungern?

Als ich unlängst meine Oma besuchte, entdeckte ich im Garten mit Begeisterung einen dichten Teppich aus Vogelmiere, der den halben Boden des Gewächshauses überwucherte.
Dank des desaströsen, dachlosen Zustands des Anzuchtgebäudes war dieses leckere Wildkraut mit ausreichend Wasser versorgt worden, um sich mir nun saftig entgegen zu recken.

Mein Vorschlag, diesen mild schmeckenden Fund in einen frisch zubereiteten Salat zu integrieren, stieß auf heftigen großmütterlichen Widerstand.

Sie wolle in diesem Leben kein Grünzeug mehr essen. Ihre diesbezüglichen Erfahrungen aus der Hungerzeit der Nachkriegsjahre seien mit keinen guten Erinnerungen verknüpft.

Buchenblätter habe sie gekaut, um wenigstens etwas im Mund zu haben. Den Anblick des Topfes, der sich bei der Zubereitung des salzlosen Brennnesselspinats blau färbte, habe sie noch heute detailgetreu vor Augen.

 

Vogelmiere
Frische Vogelmiere

Jäger und Sammler

Selbstverständlich sei sie auch mit Sauerampfer, Ackermelde, Giersch, Wegerich  und Löwenzahn bestens vertraut.

Überhaupt schien jener Lebensabschnitt aus meiner heutigen Sicht viel eher den Vorstellungen einer menschlich artgerechten Lebensweise zu entsprechen, als aktuelle Bemühungen diverser ambitionierter Vertreter unserer Spezis dies zu verwirklichen trachten.

Denn, mochten die Wildkräuter noch nahe dem Heim gefunden worden sein, so erforderten Beschaffungen nahrhafterer Lebensmittel in jedem Fall weitere Wege:

Für das “Organisieren” von Kartoffeln mussten kilometerlange Strecken zu Fuß zurück gelegt werden. Dabei war die Aussicht auf Erfolg nie garantiert.

Die Beschaffungsmaßnahmen, die die deutliche Unterversorgung mittels Lebensmittelkarten ausgleichen mussten, erfolgten meist sonntags.

Montag bis Samstag wurde schließlich gearbeitet. Ohne vorheriges Frühstück.

Andere Gemüsesorten als lediglich Kartoffeln auf diesen Spezialeinsätzen waren nur zufällige Glückfunde. Manchmal sprang eine kleine Tüte Mehl, oder ein Ei dabei heraus. Salz und Gewürze gab es nirgends. 

Nahrungsbeschaffung unter Einsatz des Lebens

Jedoch etablierten sich die Zuckervorräte der vierköpfigen Familie in der ihnen nach der Vertreibung zugewiesenen Stadt zum hervorragenden Tauschprodukt.

Noch in ihrer Heimatstadt hatten sie durch Mund-zu-Mund-Propaganda von der Nachricht profitieren können, dass in der stillgelegten Zuckerfabrik Reste des süßen Gutes zu finden seien.

Meine Großmutter, noch nicht volljährig, kletterte nachts um vier über die gesprengte Brückenruine zur Insel, auf der das Abenteuer auf sie wartete.

Dort schüttelten im Mondschein bereits etliche andere Menschen leere Zuckersäcke aus, um auch die letzten Körnchen aus den Maschen zu lösen.

Mit einer Ausbeute von einem halben Zentner auf dem Rücken rannte Oma im Morgengrauen vor den sie verfolgenden Schüssen der Russen um ihr Leben.

Es mag zynisch klingen, aber jener Überlebenskampf kam doch dem der Jäger und Sammler sehr nahe.

Dies ist nur ein Auszug aus dem entbehrungsreichen Nachkriegsleben, und in Anbetracht dessen verstehe und respektiere ich Omas Abneigung gegen alle die Erinnerung weckenden Dinge, und verneige mich vor ihr in Demut.

rote Johannisbeeren
Die Beeren - okay, aber die Blätter?

Und heute?

Wie ist es für uns, die wir uns über Jahrzehnte an überwiegend verarbeitete Lebensmittel gewöhnt haben? Mich motiviert es jedesmal ungemein, wenn ich ein neues Buch oder einen Erfahrungsbericht über die wundersame Heilung diverser Leiden, allein durch artgerechte Ernährung, lese. 

Doch wie lange hält die Begeisterung an? Da genügt bereits ein geringer Stresslevel, um die neuen Grundsätze für den Moment über Bord zu werfen.

Kuchentresen
Oder doch lieber wieder Torte?

Emotionales Essen

Für den Moment? 

Fünf Wochen Zuckerverzicht werden mit einem Stück Kuchen zunichte gemacht.

Zurück auf Anfang.

Ist das nur die Sucht? Den therapeutischen Vorschlag, mich in Momenten des Wankens VOR dem Griff in die Keksdose zu fragen, was ich eigentlich WIRKLICH brauche, habe ich noch immer nicht umsetzen können. Warum nur?

Maria Sanchez geht in ihrem Buch Sehnsucht und Hunger* näher auf die Hintergründe ein.

Dem emotionalen Essen liegen innere Spannungen zu Grunde, die unsere Aufmerksamkeit und unseren Respekt brauchen. Ein neues, gesundes Essverhalten lasse sich erst etablieren, wenn die beteiligten Emotionen und deren Ursachen freigelegt und liebevoll bearbeitet wurden.

Da das Buch sich vordergründig an Übergewichtige richtet, könnte man meinen, ich als schlanker Mensch könne mich beruhigt zurücklehnen.

Ist es wirklich ein Glück, dass ich essen kann, was und wieviel ich will, ohne auch nur ein Gramm dabei zuzunehmen?

Von außen mag es so aussehen.

Doch von innen betrachtet ergab die letzte Ultraschalluntersuchung eine deutlich vergrößerte Leber. Das überraschte mich nicht, da ich inzwischen informiert war über die Ursachen der nichtalkoholischen Fettleber.

Massiver Zucker- und Fruchtzuckerkonsum. 

Mehr dazu in einem anderen Blogartikel.  

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